Frankfurt a.M.
Fünf Tage lang war Frankfurt am Main Nabel der literarischen Welt. Die Messe war wieder einmal der Leuchtturm für Dialog und kulturellen Austausch. Dafür sind Bücher nicht nur ein wichtiges Bindeglied. Sie können sogar Brücken für den Weg in eine friedliche Zukunft bauen.
Es gab schon einmal eine Zeit der politischen Konfrontation, als die Menschen in Ost und West kaum Möglichkeiten hatten, direkt miteinander zu kommunizieren: während des Kalten Krieges. Wer damals oder in der Ära der Perestrojka in die Sowjetunion reiste, machte die Erfahrung, dass die Menschen jenseits des Eisernen Vorhangs uns zu kennen schienen. Nicht weil sie „Westfernsehen“ hätten schauen können oder über persönliche Kontakte verfügt hätten, sondern weil sie uns aus Büchern kannten. Wir im Westen hingegen kannten sie nicht. Unser Russland-Bild gründete sich bestenfalls auf russischer Klassik.
Thomas Mann im Schützengraben – und in der Metro
Jacqueline Schäfer ist Kommunikationsexpertin und Russlandkennerin seit beinahe vier Jahrzehnten. Als sie 1992 zum ersten Mal nach Moskau kam, sah sie in der Metro einen Mann, der Thomas Manns „Der Erwählte“ in Originalsprache las. Sie sprach ihn an und es stellte sich heraus, dass er im Zweiten Weltkrieg gegen die Deutschen gekämpft hatte. „Er erzählte mir, dass er Buddenbrooks im Schützengraben dabei gehabt hat. Deutsche Literatur hat ihm den Glauben gegeben, dass Frieden und Freundschaft mit einem Volk möglich und wünschenswert ist, das solche Literaten hervorgebracht habe.“ Dies habe sie tief bewegt.
Umgekehrt entstand ihre Liebe zu Russland über die Literatur von Pasternak und Tolstoi, erzählt sie. Besonders beeindruckt habe sie Bulgakows „Der Meister und Margarita“, der sich in seinem Meisterwerk auch auf Motive aus Goethes „Faust“ bezieht. „Literatur war und ist immer ein Band zwischen den Kulturen. Wäre sie nicht mächtig, gäbe es keine Zensur“, ist Jacqueline Schäfer überzeugt.
Gesucht: Grundlagen für den Dialog
Doch dieses Band zwischen den Kulturen droht nun abzureißen. Vor allem russische Kulturschaffende sind alarmiert: Das Land werde zunehmend von internationalen Kultur- und Verlagsprozessen ausgeschlossen, die russischen Leser von globalen Inhalten abgeschnitten. „Das scheint mir grundfalsch“, sagt der russische Schriftsteller und Literaturwissenschaftler Jewgenij Wodolaskin. „Entfremdung hat noch nie zu Verständnis geführt. Verständnis ist notwendige Bedingung für jeglichen Dialog.“
Wenn nun kulturelle Verbindungen – Bücher, Filme, soziale Netzwerke – abermals gekappt werden, fehlt dann wieder die Grundlage für den Dialog? Wie damals zu Zeiten der Sowjetunion? Tatsächlich unterscheidet sich die aktuelle Situation von der damaligen radikal, da sich die sowjetische Kultur seinerzeit selbst von der Außenwelt weitgehend abschottete. Die zeitgenössische russische Kultur stellt sich anders auf: Sie sucht geradezu den Austausch mit anderen Kulturen. Das gilt insbesondere für junge, progressiv orientierte Menschen, die den Blick jenseits der Landesgrenzen richten. „Ich möchte diese Gelegenheit nutzen, um meine Autoren-Kollegen aufzurufen, die Suche nach Interaktion zu unterstützen“, lautet Wodolaskins Appell. „Jede Änderung beginnt mit einer Änderung der Worte. Wir brauchen neue Worte, und ich schließe nicht aus, dass sie von Schriftstellern kommen.“
Auf der Suche nach dem gemeinsamen Nenner
Wie kann es gelingen, kulturelle Brücken zu bauen, die den Weg in eine friedliche Zukunft weisen, diese Frage treibt auch Jacqueline Schäfer um. „Es scheint beinahe, als habe die Kunst in Zeiten des Krieges ihre Unschuld verloren. Die Abgrenzung zur Propaganda fällt schwer“, gibt sie zu Bedenken.
„Ich bin jedoch überzeugt davon, dass es wichtig ist, alle Kanäle zu nutzen.“ Der Westen sollte jene Künstler unterstützen, die ihre Stimme und ihren Einfluss für die Beendigung des Krieges und für den Aufbau einer starken russischen Zivilgesellschaft einsetzen“, findet die Expertin.
Autor und Wissenschaftler Wodolaskin sagt: „Es gibt keine einfachen oder schnellen Lösungen. Wir müssen uns darum bemühen, den gemeinsamen europäischen Kulturraum wiederherzustellen.“ Ihm gehe es darum, den kulturellen Austausch von der Politik abzukoppeln und ihn nicht als Manifestation politischer Kräfte aufzufassen. „Die Situation ist derart dramatisch, dass wir jegliche Anlässe für einen Austausch nutzen sollten.“ Dabei gehe es nicht einmal um die Entwicklung eines gegenseitigen Verständnisses als vielmehr darum, den Status quo zu wahren und nicht auch noch das zu verlieren, was übrig sei.
Fragt sich also, was geblieben ist? Jacqueline Schäfers Antwort ist nicht optimistisch, aber hoffnungsvoll: „Möglicherweise ist die Liebe zur Literatur auf lange Zeit der einzige gemeinsame Nenner zwischen den Menschen in Deutschland und Russland. Etwas, was sie trotz aller Widrigkeiten verbindet.“ Und möglicherweise der Wunsch nach einer Zukunft in Frieden.
Quelle: ots